Kurzkritik: »Nachmittage« (Ferdinand von Schirach)
»Eines der persönlichsten Bücher von Schirach« ist das erste Werk der »großen Stimme der deutschen Literatur«, das ich las. Der ehemalige Anwalt, der nach der Hälfte seines Lebens zu seinem ursprünglichen Traum zurückkehrte, zu schreiben, sei mit Kafka und Kleist zu vergleichen und liefere hier »große Erzählkunst« – na ja. (Alles dem Manteltext entnommen.)
In knappen 175 Seiten liefert von Schirach stolze 23 Kurzgeschichten. Bei einem rechnerischen Durchschnitt von also fast 8 Seiten pro Geschichte gibt es einige, die weniger als eine Doppelseite lang sind und eine Handvoll, denen eine zweistellige Anzahl Seiten vergönnt wurde. Der Rest ist mit wenigen Seiten Umfang von mittlerer Länge. Die sehr kurzen und die etwas längeren Geschichten wechseln sich in etwa ab.
Den Anfang macht die Geschichte, wie von Schirach seine Frau kennengelernt, und dass er sie auf eine nicht benannte Weise verloren hat. Diese erste Geschichte gab mir Hoffnung auf eine übergreifende Erzählung, vermittelt in förmlich und inhaltlich unterschiedlichen Kapiteln. Leider wurde ich enttäuscht. In späteren Kapiteln erwähnt von Schirach hie und da eine »sie«, wird aber nie wieder konkret und so bleibt es bei einem lästigen Ratespiel. Handfest autobiografisch wird es nur einmal wieder und zwar in Kapitel zehn. Von Schirach schreibt darin, er habe im Internat wie Hanno Buddenbrook einen Doppelstrich unter seinen Namen ins Familienbuch setzen wollen. Er erzählt auch davon, wie sein Vater zugrunde gegangen ist, er daraufhin vom Traum des Schreibens zur Juristerei abgegangen war und erst viel später darauf zurückkam. Dieses Kapitel ist höchst eindrucksvoll und zeigt, dass von Schirach sicherlich ein interessantes Leben geführt und führt. Freuen wir uns auf seine Biografie.
Freilich kann es sein, dass ich eine versteckte Genialität übersehe; mit den sehr kurzen Geschichten kann ich allerdings nicht viel anfangen. Darunter finden sich vier recht interessante über Künstler (7: Bachmann, 11: Th. Mann, 21: Stieglitz, 23: Giacometti); eine mit einem Weltschmerz-Gedanken, den man wahrscheinlich auf Facebook zuhauf findet (6) und eine, die in die folgende Kategorie passt (14):
Kennen Sie diese kurze Schauergeschichte, die man sich als Kinder
erzählt hat? Die geht in etwa so: Einem Bestatter wird die Leiche einer
alten Dame geliefert. Beim Vorbereiten der Leiche für den Sarg fällt ihm
ein zweifellos wertvoller Diamantring an der rechten Hand der alten Dame
auf. Weil die Konkurrenz seinem Geschäft zu der Zeit schwer zu schaffen
machte und er eine große Familie zu ernähren hatte, beschloss er, den
Ring an sich zu nehmen. Im Tode waren die Finger der alten Damen
allerdings so aufgedunsen, dass er den Ring selbst mit Seife nicht
abbekam. Also entschied er sich dafür, ihr die ganze rechte Hand
abzusägen und sie im Sarg so zu platzieren, dass man es nicht sehen
würde. Abends legte er die Hand in einer Plastiktüte in das
Handschuhfach seines Wagens und fuhr nach Hause. Es regnete stark und
als er also an einer Ampel eine vornübergebeugt wartende Gestalt ohne
Regenschirm sah, hielt er an, öffnete das Fenster und fragte, ob er die
Person denn irgendwohin mitnehmen könne. Er sah, dass es eine ältere
Frau war; sie bedankte sich und er entriegelte die Beifahrertür. Die
Frau hatte Schwierigkeiten, in den hohen Wagen zu steigen, also sagte
der Bestatter: »Geben Sie mir ihre Hand«.
Die alte Frau antwortete: »Die haben Sie bereits«.
Genau diese Art von Schauergeschichte findet sich in »Nachmittage« öfter: recht gewöhnliche Geschichten mit einem Suspekten Detail (das Absägen der Hand, ein Exhibitionist, ein fehlendes Auge, …), die durch eine Enthüllung im letzten Satz zu einem gewissen Schauer finden (3, 8, 12, 16 und 18). Das ist nicht grundsätzlich schlecht, in der Häufung aber durchaus billig. Bei den ersten beiden war es noch gut; nach der großartigen achten Geschichte war es dann zu viel.
Sprachlich ist von Schirach freilich einwandfrei, jedoch kein Poet. Das Buch war also nicht nur der überschaubaren Länge wegen sehr leicht zu lesen.
Insgesamt hat mir das Buch gefallen, ich werde wohl weitere Werke von von Schirach lesen und freue mich darauf. Etwas besonderes war es indes, bis auf einige aus der Regel fallende Kapitel (insbesondere 1, 8 und 10), nicht.
Ich bewerte »Nachmittage« von Ferdinand von Schirach also mit 3,5 von 5.
Diese Kritik befindet sich auch auf der Website unseres Buchklubs.
Schlagwörter: literatur, kurzkritik