Hauptsache lesen? Fluch oder Segen: »BookTok«
Seit der Covid-19 Pandemie sind Bücher bei einer bestimmten Zielgruppe auf einmal wieder der letzte Schrei. Ausgerechnet TikTok, der letzte Sargnagel unserer Gesellschaft, bringt junge Frauen ab 16 wieder zum Lesen. In der Kategorie »BookTok« werden Dramen von Brecht, Gedichte von Goethe und philosophische Ideen von Schiller heiß diskutiert; die Romane von Thomas Mann besprochen und moderne Literaten wie Nabokov und Seethaler empfohlen – weit gefehlt! Es geht um immergleiche Bücher mit (deutschen!) Titeln wie »Dark Cinderella«, »Icebreaker« und »The Darkest Temptation«. Meine verbohrten und bissigen Gedanken dazu lesen Sie hier.
Das Phänomen »BookTok« ist wahrlich nicht zu übersehen. An der Börse ist es zu beobachten (etwa Der Spiegel) und bei jedem Besuch eines großen Buchladens: Immer größer wird die Verkaufsfläche solcher Bücher, die oft groß mit »BookTok« beschildert ist, sodass entsprechende Kundinnen sich bloß nicht in der anspruchsvollen Literatur verlaufen. Auf der Website der Buchkette Thalia ist »BookTok« die erste Kategorie im Reiter »Bücher« (was allerdings wohl der alphabetischen Sortierung geschuldet ist) und beim Konkurrenten Hugendubel heißt es »Buchtrends auf Social Media«. Beim oberflächlichen Durchstöbern dieser Kategorien fallen einige gemeinsame Merkmale auf, welche die meisten »BookTok«-Bücher teilen:
- Der Titel enthält entweder englische Wörter (»Onyx Storm – Flammengeküsst«) oder ist ganz auf Englisch (»This could be home«),
- es ist Teil einer »Reihe«,
- es hat ein buntes Titelbild mit Schnörkelschrift und
- es hat eine Schnittverzierung.
Inhaltlich sind die meisten der Bücher Romanzen, die oft mindestens einer »Trope« (englisch) folgen. »Trope« ist dabei ein Euphemismus für Klischee, denn nichts anderes ist es: »second chance«, »enemies to lovers«, »fake dating« …
Fallstudie »Icebreaker«, eines der beliebtesten »BookTok«-Bücher. Offenbar genügt es den Klischees: englischer Titel, Teil einer »Reihe«, buntes Titelbild mit verschnörkelter Schrift und »Trope«-überladene Romanze. Millie Alt schreibt auf thecentraltrend.com, das Buch habe die »Tropes«: »erzwungene Nähe, Hass (oder Irritation) zu Liebe und sogar gefundene Familie«. (Dieses und jedes weitere Zitat sind frei übersetzt.) Es geht um die typische Masche, dass die weibliche Hauptfigur aus gewissen Gründen (ein Trainingspartner fällt aus) mit dem allseits beliebten Kapitän einer Sportmannschaft der Universität Zeit verbringen muss (»erzwungene Nähe«). Dabei hat mindestens einer der beiden Vorurteile, die zunächst auch bestätigt werden und ist deswegen genervt (»Hass zu Liebe«). Außerdem sei eine Gruppe der Figuren eine »urkomische Bande von Außenseitern, bestehend aus Repräsentationen von LGBTQ+, POC [= People of Color–also Nichtweiße; M.D.] und Behinderung«. Mehr Klischee geht kaum. Es wundert kaum, dass das Empfehlungsschreiben auf das Buch bei thalia.de nicht etwa von einem anderen Literaten, einem Literaturkritiker oder wenigstens von einem Journalisten, sondern von einem Benutzer der sozialen Medien (JUST.A.GIRL.WHO.LOVES.BOOKS) stammt.
Insgesamt ist mein Eindruck: TikTok hat nicht zum Buch gefunden, sondern das Buch zu TikTok. Mit der Wiederbelebung der Literatur hat das nichts zu tun.
Schlagwörter: literatur